In der Farbe steckt, was gesund macht.
Sie ist die heilkräftigste Wildfrucht der Tegernseer Berge: Vaccinium Myrtillus, die Waldheidelbeere oder Waldblaubeere. Ihre Heimat sind lichte Berg- und Fichtenwälder, Hochmoore und Almwiesen bis weit hinauf über die Baumgrenze. Die 30 bis 50 Zentimeter hohen Büsche blühen im Mai und bringen von Juli bis August kleine saftige, tiefblaue Beeren mit einzigartigem Aroma hervor: fruchtig herb und umso süßer, je höher ihr Standort ist.
Wie ihre wilden Nachbarn Arnika und Meisterwurz lässt sich auch die wilde Blaubeere nicht zähmen und kultivieren. So bleibt das Sammeln ein mühsames Vergnügen. Tief gebeugt oder in der Hocke, mit blau verklebten Fingern, muss man die Beeren zwischen tiefgrünem, hartem Gestrüpp einzeln herauszupfen.
Doch bereits dieses Sammeln ist Heilkraft pur. Inhaliert man doch beim Beerenzupfen mit jedem Atemzug Waldluft und damit einen Cocktail heilkräftigster Pflanzenstoffe, sogenannte Terpene. Bäume und Waldkräuter dünsten diese ätherischen Öle aus, um miteinander zu kommunizieren und sich vor Fressfeinden zu schützen. Vom Menschen über die Atmung aufgenommen, stärken diese Duftstoffe das Immunsystem, senken den Blutdruck und bauen Stresshormone ab.
Bereits nach ein paar Minuten Aufenthalt im Wald können wir diesen Effekt deutlich spüren: Kaum taucht man in den Wald ein und hört Vögel zwitschern oder einen Specht klopfen, Eichhörnchen streiten und Windrauschen, das sich mit dem gurgelnden Plätschern eines Wildbaches vermischt, schon geht einem das Herz auf. Man steigt über knorrige Wurzeln und bemooste Steine, die aus üppigen Blaubeersträuchern wie kleine Inseln herauslugen, entdeckt die ersten Beeren und plötzlich atmet man tief durch, hält inne, legt den Kopf in den Nacken und beobachtet glücklich das flirrende Lichtspiel in den Baumkronen. Stress, Leistungsdruck, zwischenmenschliche Probleme, alles fällt von einem ab, als würde die Harmonie und Ordnung des Waldes auf einen selbst übergehen.
Gebückt ins Glück
Die Konzentration dieser heilsamen Terpene ist bis einen Meter über dem Waldboden am höchsten. Beim gebeugten, bodennahen Blaubeersammeln atmet man deshalb deutlich mehr Arzneiluft ein als beim zügigen Wandern. Zusätzlich entspannen wechselnde Lichtund Schattenspiele die von der Computerarbeit strapazierten Augen. Unterschiedlichste Grüntöne wirken als Farbtherapie während des Sammelns beruhigend auf das vegetative Nervensystem und fördern so Entspannung und Regeneration. Diese Heilkraft sammelt man mit jeder Beere mit. Sie gibt es nicht über ein gekauftes Schälchen Heidelbeeren, wie es bereits der amerikanische Dichter Henry David Thoreau um die Wirkung des Beerensammelns wusste: »Die Beeren schenken ihr ganzes Aroma weder dem, der sie kauft, noch dem, der sie für den Markt sammelt.«
Auch im Tegernseer Tal wurde in der Nachkriegszeit das Blaubeersammeln zu einem lukrativen Geschäft. Wer gut auf den Beinen war und lohnende Beerenplätze kannte, ging zum »Beerenbrocken« am Wallberg, Setzberg und Kampen. In kleinen Kisten wurden die in der Stadt begehrten Wildfrüchte zum Tegernseer Bahnhof gebracht, vom Schaffner in Empfang genommen und den am Münchner Hauptbahnhof bereits wartenden Händlern übergeben. Um schnell und ertragreich zu sammeln, verwendete man damals Blaubeerrechen. Das waren an einer Seite offene, mit einem Metallrechen versehene Holzkästchen, mit denen die Beerensträucher »durchkämmt« wurden. Im Rechen blieben aber nicht nur die Beeren hängen, sondern auch junge Triebe und Äste. Die geschädigten Sträucher brachten immer weniger Früchte hervor. Das Ernten mit Rechen wurde deshalb wieder verboten. Heute darf man Blaubeeren für den Eigenbedarf sammeln. Für kommerzielle Zwecke muss man einen »Leseschein « beantragen. Durch intensive Aufforstung mit fehlendem Sonnenlicht am Boden und Waldbewirtschaftung mit schweren Maschinen sind die üppigen Blaubeermatten von früher jedoch auf dem Rückzug.
Die Kulturheidelbeere ist innen weiß
Im Jahre 1910 gelang dem amerikanischen Botaniker Frederick Coville die erste Züchtung von Kulturheidelbeeren. Heute werden in Nordamerika 20.000 Hektar Kulturheidelbeeren mit einem Jahresertrag von 60.000 Tonnen angebaut. Zwei Drittel der Beeren landen getrocknet in Müsli und Energieriegeln auf dem Weltmarkt. Doch über deren Geschmack und Aroma hätte Thoreau nur gelächelt. Die Beeren sind zwar zwei- bis dreimal so groß wie die Wildbeeren, doch wie so oft geht auch hier die Größe auf Kosten von Geschmack und Heilkraft. Als würde die blaue Farbe für die Riesenblaubeeren nicht reichen, sind sie innen nicht mehr blau, sondern weiß. Doch genau in der blauen Farbe steckt die medizinische Heilkraft.
Mit ihrem Wirkstoffcocktail aus Fruchtsäuren, Carotin, Phosphor, Eisen, Vitamin A, B und C, stärken Blaubeeren Sehkraft, Konzentration und Immunsystem, beugen Gefäßverkalkung vor und regulieren erhöhte Blutzucker- und Cholesterinwerte. Die heilkräftigsten Wirkstoffe stecken in den blauen Farbpigmenten, in sogenannten Anthocyanen. Als »pflanzliche Blauhelmtruppe« können sie reaktionsfreudige, oft aggressive und schädliche Sauerstoffverbindungen im Körper entschärfen. Diese »freien Radikale« sind in geringer Menge ungefährlich. Sie werden vom Körper sogar selbst gebildet, steuern die Zellteilung und wichtige Reparatur- und Entgiftungsvorgänge. Ein Zuviel von ihnen, etwa durch Rauchen, Stress, Fehlernährung und chronischen Entzündungen, kann jedoch schwere Stoffwechselerkrankungen wie Rheuma und Krebs verursachen. Daher kommen die blauen »Radikalenfänger « in fast jedem gesundheitlichen Krisengebiet therapeutisch zum Einsatz. Neben der Heidelbeere finden sie sich hochkonzentriert auch in Brombeeren, der Roten Bete und im Rotwein.
Blaubeerarzneien…
Was liegt da näher, als zwei »Anthocyan-Kraftpakete « in einer selbstangesetzten Arznei zu bündeln – im Blaubeerwein: Eine Handvoll zerdrückter wilder Blaubeeren in einem halben Liter rotem Portwein ansetzen und nach zwei Wochen abseihen. Ein Likörgläschen vom blaublütigen Radikalenfänger, vormittags genossen, unterstützt den Stoffwechsel und schützt vor chronischen Krankheiten.
Ein anderer Heidelbeerwirkstoff ist das als Geliermittel bekannte Pektin. Bei roh verzehrten Heidelbeeren wirkt dieser Ballaststoff verdauungsfördernd bei Verstopfung. Bei Durchfall hingegen, etwa bei einem Magen-Darminfekt, wirken die getrockneten Beeren, gut gekaut, stopfend und entzündungshemmend. Ein Tütchen getrocknete Heidelbeeren ist daher ideal für jede Reiseapotheke. Ein Tee aus jungen Heidelbeerblättern wird in der Volksmedizin bei erhöhtem Blutzucker verwendet.
… und ein echtes Schmankerl
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen verbinde ich mit dem Blaubeersammeln am Sonnberg unterhalb des Ross- und Buchsteins. Von der Alm aus zog ich los, mit einer zerbeulten Blechmilchkanne, hockte mich in die weiten Blaubeermatten, schob mir die Backen voll mit saftigen Beeren und füllte nebenbei im Nu die große Kanne. So übervoll prall reifer Blaubeeren waren damals Anfang August noch die Sträucher. Glücklich und mit blauen Zähnen kehrte ich heim. Von den mitgebrachten Beeren gab es die beste Almdelikatesse: Blaubeerpfannkuchen. Einen Schöpfer Teig in die Pfanne gießen, brutzeln lassen bis die Unterseite goldbraun, die Oberseite aber noch fast flüssig ist. Üppig Blaubeeren hinein geben, kräftig Zucker darüber streuen und den Pfannkuchen wenden. Der Zucker karamellisiert mit dem Beerensaft, und die Süße verbindet sich mit dem Herben der Beeren zu einem einzigartigen Aroma.*
* Die beim Pfannenbacken entstehende Hitze ist übrigens auch ein guter Schutz gegen den Fuchsbandwurm – ein Thema, das im Zusammenhang mit (wilden) Blaubeeren heute leider allgegenwärtig ist.
Fotos: Saskia Wehler