Flechten – die Korallen der Wälder

Baummoos und Bartflechte

Für die Flechten (Lichen) überschreiten wir die Grenzen des Pflanzenreichs – ausnahmsweise und nur ein bisschen. Streng botanisch gesehen, ist dieses Wesen nicht ganz Pflanze, nicht ganz Pilz und auch nicht Tier. Vor allem aber: Ohne diesen Lebenskünstler würde es uns Menschen auf der Erde wohl nicht geben.

Vor vielen Millionen Jahren kamen Algen (genauer gesagt: Blau- und Grünalgen) auf die Idee, das behagliche, nährstoffreiche Meereswasser zu verlassen und an Land zu kriechen. Warum sie das taten, darüber können wir nur spekulieren. War ihr Lebensraum bedroht, oder hatte eine Mutation ihnen ein Entdeckergen beschert? Da sie bereits Chlorophyll besaßen und zur Photosynthese fähig waren, konnten sie auch an Land lebenswichtigen Zucker produzieren. Was ihnen jedoch ab ihrem Landgang fehlte, waren Mineralien, Salze und andere Nährstoffe, die im Meereswasser üppig gelöst, an Land aber für die Algen unerreichbar in hartem Gestein gelagert waren.

Darwins Irrtum – »Survival of the teamplayer«

Doch statt den Rückzug ins Meer anzutreten, beschlossen die Blaualgen, sich mit einem anderen Lebewesen zusammen zu tun, das bereits das Land erobert hatte: Pilze. Diese Spezialisten produzieren Enzyme, mit denen sie Steine aufbrechen und mineralische Nährstoffe herauslösen können. Jedoch besitzen sie kein Chlorophyll – sonst wären Pilze grün und keine Pilze sondern Pflanzen. Aus dieser Symbiose entstand eine völlig neue Lebensform: Flechten! Die Alge liefert den Zucker, der Pilz die Mineralien. Je nachdem, welcher Pilz sich mit einer Blau- oder Grünalge zusammentut, entsteht eine der über tausend Flechtenarten.

Zahnlose Steinbeißer

Diese »neuen« Wesen besiedelten nackten Fels und Geröll. Sie speicherten Wasser, zerkleinerten Steine und boten in ihrem korallenartigen Blattgeflecht Nährboden und Halt für die Samen anderer Pionierpflanzen wie Moose, Farne und erste Kräuter. Auch Kleintiere wie Asseln, Würmer und Mikroorganismen fanden neuen Lebensraum, spezialisierten sich zu Humusbildnern und schufen nährstoffreichen Boden für Bäume und Wälder. Die Bäume wiederum wandelten Kohlendioxid aus der Luft in lebenswichtigen Sauerstoff und schufen so unser Tegernseer Heilklima mit besten Lebensbedingungen für uns Menschen. – Und all das nur durch den Mut einiger abenteuerlustiger Algen.

Lebenskünstler in Bedrängnis

Viele Flechtenarten, wie der Tannenbart oder die Lungenflechte, sind heute vom Aussterben bedroht und stehen in Deutschland unter Naturschutz. Flechten brauchen intakte, lichte Wälder mit alten dicken Bäumen. Auch reagieren sie sehr empfindlich auf Schadstoffe. Die Lungenflechte bekam ihren Namen, weil sie als Indikator für reine Luft gilt. Sie bevorzugt regenreiche Bergregionen über 900 Meter mit alten Laubbäumen. Wo sie wächst, finden Lungenkranke heilklimatische Luft. Auch wachsen Flechten extrem langsam, oft nur einige Millimeter im Jahr und werden über hundert Jahre alt.

Zeichnung von Flechten-Lichenes von Ernst Haeckel
Ernst Haeckel – Flechten-Lichenes (Kunstformen der Natur,
1904) / wikipedia commons

Sitzt man im Sommer in Siebenhütten mit einem kühlen Tegernseer Hell an den Stamm des etwa vierhundert Jahre alten Bergahorns gelehnt und legt den Kopf in den Nacken, bekommt man eine Ahnung von Lebenszyklen der Natur, in denen wir Menschen als Eintagsfliege erscheinen. In dichten, üppigen Matten hängen Jahrhunderte alte Moose und Flechten von den baumdicken Ästen herab, als hätte sich der alte Ahorn über die Zeit ein grünes Fell für die klirrend kalten Winter zugelegt.

Heute haben wir Menschen mit unserem unersättlichen Energiehunger keine Zeit mehr, Bäume Hunderte von Jahren alt werden zu lassen. Für die Holzwirtschaft werden sie meist nach 60 bis 80 Jahren gefällt. Den auf Rinden lebenden Flechten schwindet dadurch der Lebensraum. Auf Fels und Gestein lebende Flechten werden hingegen zunehmend durch den Einsatz tonnenschwerer Holzerntemaschinen zerstört.

In Oberstdorf ist der Tannenbart aus einem anderen Grund rar geworden: Alle fünf Jahre findet dort der Tanz der »wilden Männer« statt. In einem archaisch anmutenden Frühjahrsritual tanzen 14 Männer durch den Ort, um sich mit den erwachenden Naturkräften zu verbinden. Dabei tragen sie einen bis zu zehn Kilo schweren Mantel aus Tannenflechten.

Bei einem anderen Allgäuer Brauch begleitet der Krampus am 6. Dezember den Nikolaus ebenfalls in einem Mantel aus Tannenbart. Mutige versuchen, sich aus dem Mantel ein Flechtenstück heraus zu zupfen. Zuhause wird es im Herrgottswinkel in den geweihten Maria-Himmelfahrts-Kräuterbuschen gesteckt. Zur Wintersonnwende am 21. Dezember wird der Kräuterbuschen dann zerkleinert und während der Raunächte als schutzmagisches Räucherwerk auf die Glut gestreut.

Auch bei der Kreuther Leonhardifahrt schmückt man heute noch die Pferdewägen nach alter Tradition mit Tannenbart. Eine alte Bäuerin erzählte mir, dass Flechten in Notzeiten getrocknet und als, wenn auch nicht sehr nahrhafter, Mehlersatz verwendet wurden.

Die Flechtenapotheke

Die bekannteste heilkräftige Flechte ist das Isländisch Moos (Cetraria islandica). Trotz seines Namens ist es kein Moos aus Island, sondern eine auch im Alpenraum beheimatete Strauchflechte. Wegen seines hohen Schleim- und Bitterstoffgehaltes wirkt Isländisch Moos als Tee und Lutschpastillen entzündungshemmend und reizlindernd bei Husten, Bronchitis und Magen-Darmentzündungen.

Bergahorn

Im Alpenraum selten geworden ist die Lungenflechte (Lobaria pulmonaria). In der Volksmedizin wurde sie als Tee bei allen Lungenerkrankungen verwendet.

Unsere häufigste heimische Flechte ist die Bartflechte (Usnea dasopoga), auch Tannenbart, Lärchenbart oder Hexenbesen genannt. Silbrig grün hängt sie wie Lametta in bis zu 20 Zentimeter langen »Bärten« von den Zweigen alter Bäume. Mit ihrem hohen Gehalt an antibiotischer Usninsäure wird sie als Tee zur Mundspülung bei Rachen- und Zahnfleischentzündung eingesetzt. Äußerlich als Waschung hilft der Tee bei Hautpilz. Salbe oder Pulver aus getrockneter Bartflechte wirkt antibiotisch bei infizierten, schlechtheilenden
Wunden.

Da der Tannenbart in Deutschland unter Naturschutz steht, darf er nicht von den Bäumen gesammelt werden. Nach einem Sturm findet man aber schnell am Waldboden das eine oder andere vom Baum gewehte Flechtenstück, das man in kleiner Menge für seine Flechtenapotheke oder als schutzmagisches Räucherwerk verwenden kann.